Ein Schlüsseldokument
Über 70 Jahre hat sich in privater Hand ein Schlüsseldokument der Geschichte von Öl und Gas im Weinviertel erhalten: Eine Filmsequenz von der Eröffnung der Sonde St. Ulrich 1 in der Nähe von Neusiedl an der Zaya am 25. September 1938, gedreht auf 16mm Kodak, ein kurzer Teil davon in Farbe.
Das Dokument zeigt einen tragischen Helden der österreichischen Erdölwirtschaft: Richard Keith van Sicke (1899-1961).
Wir sehen van Sickle im schwarzen Anzug links, er blickt in die Kamera, raucht, wendet sich um. Durchs Bild geht – Reichsstatthalter Seyß-Inquart.
Wenige Monate später wird van Sickle als britischer Oberst gegen die Nazis kämpfen, aber das von ihm im Weinviertel aufgefundene Öl fließt in die deutsche Kriegswirtschaft.
Erfolg einer Lohnbohrung
In Diensten der NS-deutschen DPAG (Deutsche Petroleum AG) hatte van Sickle die Lagerstätte bei St. Ulrich 1 erbohrt, auf Freischurfen, die er Mitte der 1930er Jahren selbst erworben und erst unter Druck hatte abgeben müssen.
Die Lohnbohrung hatte dazu gedient, Geldmittel für eigene Bohrprojekte und für die Eröffnung von Grubenfeldern zu erwerben, um nicht nach dem NS-deutschen Bitumengesetz die Rechte an den Freischurfen zu verlieren.
Reichsstatthalter Seyß-Inquart
Sekunden nach van Sickle geht dann eine Person durchs Bild, in der wir NS-Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart erkennen können.
Die hier in Farbe festgehaltene Szene markiert einen Wendepunkt in der Geschichte einer Unternehmerfamilie und einen Wendepunkt in der Geschichte Österreichs.
Ein Wendepunkt
Nur wenige Monate später wird das Ölfeld von St. Ulrich zum wichtigsten Ölfeld innerhalb der Grenzen des Großdeutschen Reichs.
Und während hier zwei Millionen Tonnen Öl von 1939-1945 in die deutsche Kriegsmaschine fließen, nimmt der kanadische Staatsbürger van Sickle als britischer Oberst am Krieg teil.
Als Sieger kehrt er 1945 nach Wien zurück. Die Ölfelder aber werden sich von der Kriegswirtschaft nie mehr erholen.
Ontario, Australien und Rumänien
Doch zunächst noch einmal zum Beginn dieses spektakulären Lebenswegs.
Schon Vater, Onkel und Großvater waren in Ontario/Kanada, in Galizien, Australien und Rumänien im Ölgeschäft tätig gewesen.
Câmpina
Richard Keith van Sickle kommt am 15.10.1899 im rumänischen Câmpina, und damit in einem der zeitgenössisch wichtigsten Erdölreviere Europas zur Welt.
Ein Bohrtagebuch aus Rumänien
Nach seiner Ausbildung in Cambridge ist Keith van Sickle zunächst in Rumänien als Bohrfachmann aktiv.
Das Tagebuch vermerkt Details zu Fördertechniken („swabbing“ und „swedging“), zu Problemen mit der Versandung der Bohrlöcher ebenso wie Treffen mit den prominentesten Vertretern der zeitgenössischen Erdölwirtschaft bis hin zum Shell-Manager Henri Deterding.
Freischurf bei Neusiedl
In den 1920er Jahren kommt van Sickle erstmals ins Weinviertel.
Vom Ölpionier und Wünschelrutengänger Friedrich Musil erwirbt er 1935 im Gebiet St. Ulrich/Neusiedl 48 Freischurfe.
Britol Oil
Seine Frau Dorothea van Sickle gewinnt in London Geldgeber, und mit britischem Kapital entsteht die Britol Oil Aktiengesellschaft.
Anschluss 1938
Kurz darauf regt sich aber auch schon deutsches Interesse an van Sickles Gebiet. Mittelsmänner der NS-Ölwirtschaft erzwingen schon 1937 erste Optionen.
Der „Anschluss“ 1938 und das NS-deutsche Bitumengesetz verschärfen die Lage für das junge Unternehmen dann dramatisch. Innerhalb von wenigen Monaten müssen die Freischurfe zu produktiven Grubenfeldern ausgebaut werden, ansonsten verfallen alle Berechtigungen. Nur auf einem kleinen Teil der ursprünglich geplanten und erworbenen Fläche gehen van Sickle-Sonden in Betrieb.
Ausgerechnet die Lohnbohrung für die DPAG in St. Ulrich hatte dazu gedient, Kapital für eigene Bohrprojekte und damit für die Eröffnung eines eigenen Grubenfeldes nach dem Bitumengesetz zu erwerben. Jetzt aber wird hier Öl für die deutsche Kriegswirtschaft gefördert.
Hermann Fritsche
Betriebsleiter in Neusiedl ist Hermann Fritsche. Auch während des Krieges wird er das Unternehmen treu führen – ein schwieriges und nicht ganz ungefährliches Unterfangen, immerhin ist das Unternehmen in „feindausländischem“ Besitz.
Durch eine Intrige wird der verdiente Mitarbeiter nach dem Krieg aber aus der Firma gedrängt.
Dass eine Versöhnung nach langer, guter Zusammenarbeit ausblieb, schmerzt die Erben noch heute.
Verhängnisvolle Doppelvollmacht
Wenige Monate nach der Erschließung von St. Ulrich 1 beginnt der Zweite Weltkrieg. Als kanadisch-britischer Staatsbürger reist Richard Keith van Sickle noch Ende August 1939 über Zürich in Richtung London.
Hektisch ergehen Vollmachten – fatalerweise an seinen Betriebsleiter Hermann Fritsche und an seine Sekretärin und Geliebte Elfriede Krasa gleichermaßen. Sie sichern den Betrieb des nur noch pro forma unabhängigen Unternehmens.
Nach dem Krieg wird aber Elfriede Krasa allein die Geschäftsführung übernehmen.
Auf beiden Seiten der Front
Die Front des Zweiten Weltkriegs verläuft dann zwischen dem Firmengründer und seinem rechtmäßig erworbenen Eigentum.
Es ist das Ölfeld St. Ulrich, mit dem die Wehrmacht Stalingrad und den Kaukasus erobern will. Und es ist – zumindest indirekt – auch dieses Ölfeld, das dazu beiträgt, dass die deutsche Luftwaffe London bombardiert und mit einem Volltreffer auch das Familienanwesen am Sumner Place Nr. 2 zerstört – just die Immobilie, die für van Sickle als Garantie für den Kauf der Musil’schen Freischurfe gedient hatte.
Richard Keith van Sickle selbst bohrt während des Krieges in der Libyschen Wüste für die British Army nach Wasser. Als Öl-Attaché ist er in Bagdad und Teheran tätig. Auch deshalb hat er später gute Kontakte zu den Sowjets.
Oberst van Sickle a.D.
Und das zahlt sich aus, als er im Rang eines Oberstleutnant im Dezember 1945 über Indonesien nach Wien zurückkehrt.
Als einziger Privatunternehmer ist er in der Lage, der sowjetischen Verwaltung der Ölfelder Paroli zu bieten.
Nachkrieg und Rechtsstreit
Doch die Folgen von Enteignung und Kriegswirtschaft bleiben drückend. Die Förderquoten fallen. 1961 stirbt Richard Keith van Sickle in Baden bei Wien.
Nach einem langwierigen Rechtsstreit kann sein Sohn James van Sickle erst in den 1970er Jahren die Firma übernehmen. Auch Keiths Bruder Bill – schon in den 1930ern in Neusiedl aktiv – ist bis ins hohe Alter als Buchhalter dabei. Der steigende Ölpreis führt noch einmal zu einer Belebung des Geschäfts. Mit neuartigen Verfahren zur Sandsperre lassen sich die Erträge steigern. Mit einer eigenen Raffinierie ist das Unternehmen auch an der Veredelung seiner Produkte beteiligt.
In den 1990er Jahren aber endet das Zeitalter der kanadisch-österreichischen Ölpioniere der van Sickles im Weinviertel. Betrieb und Belegschaft, Sonden und Ölfelder gehen im Konzern der OMV auf.
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